Ich bin mit meinen beiden Jungs auf dem Weg zum Spielplatz. Der Räuber hält es in der Wohnung nicht mehr aus. Er ist nörgelich, unzufrieden, braucht dringend einen Tapetenwechsel. Auch ich bin genervt, ich komme heute zu gar nichts. Die Spülmaschine muss ausgeräumt werden, die Wäsche stapelt sich und meine Nächte sind auch kurz. Im Moment sehr kurz. Es fühlt es sich an, als wäre immer einer der beiden wach – im Wechsel. Wenn Der Räuber schläft hat der der Kleine eine schlechte Nacht, quält sich mit Bauchweh oder möchte im Stundentakt gestillt werden. Wenn er nach Mitternacht endlich eingeschlafen ist, schreckt kurze Zeit später der Räuber hoch. Manchmal hat er schlecht geträumt, manchmal möchte er einfach nur kurz etwas Trinken. Wenn alle Kinder wieder schlafen, liege ich wach, meine Gedanken kreisen und ich komme nicht mehr zur Ruhe. Oft denke ich, wenn ich jetzt einschlafe, weckt mich gleich wieder einer der Beiden und ich bin noch mehr neben der Spur.
Schlafentzug, ein unzufrieden Kind und ein Baby das auch seine Aufmerksamkeit einfordert. Dass alles wirkt sich aus. Ich kann nicht mehr so ruhig und gelassen reagieren. Ja, ich motze zurück, meine Stimme wird lauter. Der Räuber trödelt beim Anziehen, möchte Sandalen anziehen und nicht die Schuhe die ich für diese Jahreszeit am geeignetsten halte. Jacke möchte er auch nicht, schließlich scheint doch die Sonne. Ich erkläre ihm mehrmals das es trotz Sonne heute sehr kalt ist. Nichts zu machen. Der Kleinste im Tragetuch bekommt die Unruhe mit, fängt an zu weinen, als wollte er sagen: Bitte, hört doch auf und lauft endlich los! Gut, dann zieh eben Sandalen an, ich hab keine Kraft mehr für diese Diskussion. In seinem Sommeroutfit stapfen wir los. 5m später brüllt der Räuber: „Mama, mir ist kalt! EISKALT! Ich will meine Jacke!“ Ich hab natürlich vorgesorgt und seine Jacke mitgenommen. Aber die will er nicht. Der Räuber schreit: „Ich will die Grüne!“ Ich könnte platzen vor Wut, mein Schlafmangel macht sich bemerkbar. „Zieh jetzt bitte die blaue Jacke an und dann gehen wir, du freust dich doch schon so auf den Spielplatz.“ Er läuft weg und tritt wutig mit den Füßen gegen die Haustür. „Ich will mit meiner Eisenbahn spielen, ich will nicht zum Spielplatz!“ ……….
20min später will er doch zum Spielplatz gehen. Ich ziehe ihm schweigend die wärmeren Schuhe an und seine grüne Jacke. Ich bin froh das der Zwerg mittlerweile schläft. Meine Laune ist im Keller, da kann gerade nicht mal mehr dieser schöne sonnige Spätsommertag etwas ausrichten. Der Räuber schaut mich an, er beobachtet mich. Irgendwann beugt er sich zu mir und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Mama? Ich hab dich lieb!“ sagt er. „ich habe dich auch sehr, sehr lieb!“ sage ich erschöpft und geb ihm ein Küsschen. Wir laufen los, er nimmt meine Hand. „Mama? Das war jetzt blöd von mir – aber ich hatte grad ganz schön viel Wut in mir drin, aber jetzt ist sie wieder weg!“ Er lächelt mich an und irgendwie ist meine Welt wieder gut.
Wir biegen um die Ecke, der Spielplatz ist in Sichtweite. Der Räuber freut sich und rennt voraus. Plötzlich schreit ein Kind. Es tut richtig weh in den Ohren. Als Mutter ist man da wohl sofort in Alarmbereitschaft. Mein Körper läuft auf Hochtouren. Auf dem Spielplatz sehen wir ein Kind, wahrscheinlich etwas älter als der Räuber, das Kind liegt am Boden, tritt wie wild mit den Füßen um sich, versucht nach seiner Mutter zu hauen. Sie beugt sich zu ihm runter, als wolle sie ihm aufhelfen. Das Kind schreit, greift nicht nach der Hand seiner Mutter. Wir laufen vorsichtig weiter. Der Räuber sagt leise: „Mama, das Kind ist auch ganz schön wutig, so wie ich vorhin!“
Die Frau sieht uns, sagt Hallo und ich kann sehen, dass Sie mit den Tränen kämpft. Sie sieht müde aus und sehr erschöpft. Sie ist hilflos, auch dass sieht man ihr an. Sie kümmert sich den ganzen Tag um Ihr Kind, 24 Stunden, ist immer da, übernimmt die Verantwortung für dieses kleine Glück, dass ihr geschenkt wurde und versucht all seine Bedürfnisse zu stillen, hat kaum Zeit für sich, immer geht alles vor, der Haushalt, der Job und an erster Stelle natürlich das Kind. Und dann liegt es da, dieses kleine Glück, dass um sich tritt und sich nicht beruhigen lässt, mit so viel Wut im Bauch. Als Mutter sucht sie die „Schuld“ natürlich bei Ihr. Was hab ich falsch gemacht? Warum reagiert er so? Bin ich keine gute Mutter? Verdammt, was hat er denn? – Verzweiflung macht sich breit, und ein Gefühl aus Versagen und Traurigkeit. Sie spürt das ihre eigene innere Grenze jetzt erreicht ist, dass sie nicht mehr kann und ihre Nerven aufgebraucht sind.
Sie geht weg, setzt sich ein paar Meter weiter auf eine Bank und starrt ins Leere. Ich verurteile sie nicht, sie ist keine schlechte Mutter, weil sie aus der Situation flieht. Jeder hat seine Grenze und Ihre ist jetzt wohl erreicht.
Der Junge hat mittlerweile aufgehört zu Schreien, beruhigt sich langsam. Der Räuber geht vorsichtig auf ihn zu, setzt sich neben ihn und erzählt ihm das er vorhin auch ganz schön wutig war und seine Mama deshalb auch traurig. „Und dann hab ich ihr einen Kuss gegeben und sie hat wieder gelacht!“ fügt er hinzu. Der Junge nickt, steht auf und geht mit kleinen tapsigen Schritten auf seine Mama zu, setzt sich neben Sie und gibt ihr ein Küsschen. Sie lächelt kurz und streichelt ihm über die Wange. Das Kind läuft auf den Räuber zu, der mittlerweile fröhlich im Sand buddelt und die beiden spielen als ob sie sich schon ewig kennen. Ich überlege kurz ob ich zu ihr gehe, die Siatuation verunsichert mich, schließlich kenne ich die Frau nicht. Ich entscheide mich aber trotzdem dafür.
Ich setze mich neben Sie. Erst schweigen wir beide, dann erzähle ich ihr von unserem Tag, davon dass alles schief gegangen ist, der Räuber nur am motzen ist und der Kleinste heute auch einfach keinen guten Tag hat. Davon, dass es auch bei uns solche Situationen gibt an denen ich gerne einfach nur weglaufen würde.
„Manchmal“ sagt sie, „Manchmal denke ich das es sowas nur bei uns gibt, das ich nichts hinbekomme und es nicht schaffe mein Kind zu erziehen. Ein Wutanfall nach dem anderen. Ich geb mir solche Mühe, bin lange geduldig, aber ich kann nicht mehr. Ich fühle mich so furchtbar allein gelassen. Mein Mann geht den ganzen Tag arbeiten und bekommt von all dem kaum was mit. Ihm bleiben meist die schönen Augenblicke mit den Kindern. Ich schäme mich so, ich will gar niemanden etwas davon erzählen. Weder von den Wutausbrüchen noch von meiner eigenen Erschöpfung.“
Das ist es. Wir Mütter schämen uns sobald nicht alles nach Plan läuft. Wenn unsere Kinder schreien oder sich nicht so verhalten wie wir es in dem Augenblick gerne hätten. Wir schämen uns, wenn das Kind an der Supermarktkasse zu schreien beginnt, weil es jetzt nicht das Überraschungsei bekommt, dass es so gerne hätte. Wir schämen uns wenn es in der Bäckerei nicht Danke sagt, nachdem es einen Bonbon zugesteckt bekommen hat. Wir schämen uns weil wir kraftlos sind und das Gefühl haben Versagt zu haben. Wir schämen uns weil wir nicht wissen, dass es bei anderen Familien auch nicht anders läuft. Es erzählt ja kaum jemand von den Wutanfällen seines Kindes, davon das man lauter geworden ist, dass man ungerecht war zu seinen Kindern, weil man vor lauter Schlafmangel keine Geduld mehr aufbringen kann.
Keine Mutter, keine Familie, kein Kind braucht sich verstecken. Wir alle machen Fehler, jede Mutter ist früher oder später Erschöpft, jede überschreitet von Zeit zu Zeit ihre eigene Grenze und hat deshalb keine Energie mehr. Wir schämen uns Hilfe anzunehmen, weil wir Angst haben als schlechte Mutter dazustehen. Wir müssen es nicht alleine schaffen, wir dürfen Aufgaben abgeben. Wir brauchen Familien die uns immer wieder sagen, dass es bei ihnen nicht anders läuft, das auch auf ihren Fenstern kleine Kinderhand-Abdrücke zu sehen sind, das sich das Geschirr stappelt und der Wäscheberg nicht kleiner wird. Wir brauchen Mütter die sagen:
Ja – auch bei uns ist oftmals Chaos
Ja, ich bin manchmal ungeduldig mit meinen Kindern
Ja, manchmal werde auch ich laut und schreie mein Kind an.
Ja, ich mache die gleichen Fehler wie du!
Ja, ich bin erschöpft und bräuchte dringend etwas Schlaf!
Ja, ich nehme Hilfe an um nicht ständig über meine eigene Grenze gehen zu müssen
Und Nein,
dafür muss sich keine Mutter der Welt schämen!
Wir müssen nicht perfekt sein
und wir müssen es nicht alleine schaffen!
Und deshalb sind wir keinen schlechten Mütter!
Lasst es uns rausschreien in die Welt, so dass es bei jeder einzelnen Frau und Mutter ankommt. Fangen wir doch bitte endlich an uns gegenseitig zu helfen und uns aufzufangen – so dass keine Mutter mehr schämen muss!
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